Bildertexte

Die Bildertexte sind aus der Begegnung mit Kunstwerken vornehmlich aus dem Sprengel Museum Hannover entstanden; die meisten davon im Rahmen der Veranstaltungen "Wort-Bild-Dialoge" zwischen 1988 und 1991 und "vor Ort" gelesen worden.

GEH AUS DEINEM KASTEN
drei träume

I
geh aus deinem kasten
kind
tauche aus dem dunklen schutz
deiner mutterträume
nackt ins grelle grell
mein kind
verbrenn dir nicht das augenlicht
im gleißend blauen dunst -
geh aus deinem kasten
vorbei das dunkle tasten
vorbei das süße schlummern
nie wieder wirst du rasten -
denn gleißend
ist der blaue dunst
und trügerisch
mein kind

II
geh aus deinem kasten
adam
spring hinein ins blaue
laß hinter dir die taten
deiner tönernen figurn
vergessen flügelschlag und
flammen die kein licht
in dunkle kammern warfen
würfel fielen falsch
o adam
ausgezogen bis auf nackte haut -
geh aus deinem kasten
deinem heiß gehaßten
lerntest jede heuchelei
bis zum bittern fasten -
nackt bis auf die weiße haut
wer öffnet dir
zur flucht die tür
o adam


III
geh aus deinem kasten
gevatter
nach langem schlafe
kommt der tag nun
aufzustehn
im dunkeln verbleiben
oder steigen ins licht
gevatter
das ist die ewige frage -
geh aus deinem kasten
befreit von allen lasten
nie wieder wirst du ruhn
nie wieder wirst du hasten -
und der schlüssel zur antwort
auf die ewige frage
steckt außen
gevatter

(anläßlich des Bildes "Geh aus deinem Kasten" von Wolfgang Mattheuer)

 

HAPPY HOUR

zwischen fünf und sechs uhr
zwischen schatten und licht
zwischen hand und gesicht
zwischen schlips und kragen
zwischen hoffen und wagen
zwischen glasrand und mund
zwischen farblos und bunt
zwischen feuer und blut
zwischen lippen und glut
zwischen finger und knie
zwischen jetzt oder nie
zwischen schenkel und stuhl
zwischen heavy und cool
zwischen stuhl und tisch
zwischen müde und frisch
zwischen tisch und bett
zwischen verlogen und nett
zwischen angst und lachen
zwischen lassen und machen
zwischen stunde und glück
zwischen vor und zurück
zwischen sonne und mond
tut das herz bewohnt
zwischen fünf und sechs uhr

(angeregt durch W. Lam’s Bild "Entre 5h et 6h", 1961, Sprengel Museum, Hannover 1988)


DER SIEGER
kopf ab zum gruß

das lächeln zerknirscht
stahlblau
zwischen den zähnen
die augensicheln
im kampfe gedengelt
schneiden die blicke
der demut in stücke
kopf ab zum gruß
enthoben des eigenen hauptes
die schädeldecke gespalten
nichts offenbart sie
das auge ist starr
doch ein sieger
kopf ab zum gruß
unter der kriegsbemalung
ein regenbogen kastriert
als tarnung
zermahlen die kinnbacken
unverdauliche wörter
kopf ab zum gruß
die lautlose hymne
enthauptet zum zweiten mal
das knöcherne zeichen
erhoben den kindskopf
in der hohlen hand
nichts als den kindskopf
kahl
kopf ab zum gruß

(angeregt durch H. Antes’ Bild "Der Sieger", 1988)

Auch zu eigenen Grafiken sind Texte entstanden:

verbundenes paar
Klaus Urban, 1987
zu: "verbundenes paar", Radierung, 1977

verbundenes paar
bis dass
die fessel zu eng geschnürt
keinem mehr luft läßt
bis dass
die verbundenheit nur noch die wunden
verhüllt, die nie heilen
bis dass
das lebenslängliche vertrauen
auf bewährung frei kommt
bis dass
der unsichtbare pflock im fleisch
euch scheidet
verbundenes paar

 

oh mann
Klaus Urban
zu: "oh, mann", Radierung, 1977



oh mann
die krallen gespreizt
vor dem standbild
das perlweiß
verkündet nichts
gutes
wenn du mir
vom sockel mal
zwischen die finger
ich reibe
die hände nicht länger
in unschuld
wenn du mir
verfroren
das lächeln
mal daumenlang
kommst
vor die lippen
dann kommt
von den lippen
oh mann
kein pardon