Kurzprosa & PoetrySlam-Texte

Übersicht:

alle warten
SIE
Knopfloch - oder ein aufklärungsstück
WDWGW: Wenn die Welt gerecht wäre
LIEBE ist eine Tätigkeit
MANNOMANN

 

alle warten
Klaus Urban

der junge mann mit dem saloppen hemd und den neuen turnschuhen versucht seit einer stunde, seine mutter telefonisch zu erreichen
die lange dünne schwarze frau bemüht sich bislang vergeblich, die aufmerksamkeit des dunklen dünnen gelockten kellners auf sich zu ziehen
der feine pinkel zupft sich dauernd sein neues weißes jacket zurecht. auf dem stuhl neben sich hat er die zugehörige plastiktüte von "cor la", 104 rue d'arbour, paris, drapiert
die reisetruppe der pfadfinder lacht unaufhörlich lautstark. die jugendlichen männer sind zum teil aus ihren kurzen hosen schon erheblich herausgewachsen, die mädchen und jungen frauen sind vor allem durch ihre weißen söckchen gekennzeichnet
der schwarze priester mit der flachen canon-tasche wühlt verzweifelt nach kleingeld, um sich die hungrige langeweile mit kaffee und einem käse-toastbrot zu vertreiben
die dame undefinierbaren alters neben mir lernt die namen der wichtigsten sight-seeing-points aus dem merian auswendig
ihr englischer akzent bei dscheriko rämät gän kepörneam mässädä känä heiaife rämlä soudem änd raio-uot irritiert mich so, daß es mir nicht gelingt, einen lange gedachten satz zu ende zu schreiben, der in das lange erzwungenen warten buchstäblich einen sinn gebracht hätte
der kleine junge mit dem langen springtau, dessen eines ende er meist im mund trägt, hat einen stapel duty-free-shop-preis-listen erobert und bringt sie stolz zu seiner mutter
in einer ecke gnickern zwei junge jeans-mädchen unter ihren langen haaren und ohne erkennbaren grund vor sich hin
der pfadfinderboß springt alle fünf minuten von seinem stuhl hoch, setzt sich die rote schirmmütze auf und läuft zwischen den stuhlreihen hindurch, um seine schäfchen zu zählen
der kellner wundert sich, daß ihm bei dem freundlichen preis von zweimarkfünfundneunzig für eine tasse kaum jemand einen kaffee abnehmen will. jetzt entdeckt er endlich die lange dünne schwarze frau
die ältere sportliche dame im trainingsanzug, der eigentlich keiner sein will, hat ein fläschchen piccolo aufgemacht
und alle tun dasselbe wie ich
alle warten

der junge mann mit den neuen turnschuhen verteidigt wild gestikulierend seine telefonzelle. das saloppe hemd hängt ihm aus der hose heraus. seine mutter hat er offensichtlich immer noch nicht erreicht
die lange dünne schwarze frau beschwert sich, daß der dunkle dünne gelockte kellner die tasse nicht voll genug mit kaffee auffüllt
der feine pinkel im weißen jackett packt sich seine plastiktüte von "cor la", 104 rue d'arbour, paris, unter das haupt und versucht, quer über vier plastikstühle hinweg, ein nickerchen zu machen
das unaufhörliche lachen der pfadfindertruppe ähnelt mehr und mehr dem gemecker einer riesigen ziegenherde. die meisten mädchen und jungen frauen haben auf kosten der weißen söckchen ihre schuhe ausgezogen. die kurzen hosen werden immer enger
der schwarze priester hat die plastiktasse mit dem heißen kaffee auf seinen rechten oberschenkel gestellt. er kann sie nur mit mühe und sehr verkrampft mit der linken hand festhalten, denn am handgelenk hängt noch die flache schwarze canon-tasche und unter dem oberarm klemmt eine schwarze kongreßmappe, auf deren mitte der grüne zollpunkt prangt. mit der zittrigen rechten sucht er das mit deutscher gründlichkeit und goldpapier verpackte stückchen zucker aus seinem papierkleid zu lösen
die dame undefinierbaren alters neben mir deklamiert laut die namen der wichtigsten sight-seeing-points aus dem merian und fordert mich auf, sie abzuhören
auf meine bemerkung hin, daß man ein land doch nicht durch vokabeln lernen kennenlernen würde, fragt sie pikiert zurück: and what are you doin, dear?
der kleine junge mit dem langen springtau liest seiner mutter die parfumpreise von ricci auch aus der fünfundzwanzigsten duty-free-shop-preis-liste vor
in einer ecke gnickern zwei junge jeans-mädchen unter ihren langen haaren und ohne erkennbaren grund vor sich hin
die rote schirmmütze hat einen breiten dunklen schweißrand bekommen und läuft ununterbrochen zwischen den stuhlreihen hindurch. die herde scheint unzählbar groß geworden zu sein. auch eine liste und zwei hilfszähler helfen nicht weiter
der kellner wundert sich nicht mehr. er hat sich mit durstigem gesicht in der nähe der jeams-mädchen niedergelassen, findet aber weder zwischen den langen haaren noch im gnikkernden lachen einen offenen augenblick
die ältere sportliche dame im trainingsanzug, der immer weniger einer ist, trinkt schon das zweite fläschchen piccolo. sie prostet ihrem nicht vorhandenen gegenüber zu
und alle tun dasselbe wie ich
alle warten

der junge mann mit dem offenen saloppen aus der hose heraushängenden hemd und den neuen turnschuhen hockt mit leerem blick vor der telefonzelle auf dem boden. von zeit zu zeit kommt ein trockener schluchzer hoch. es könnte 'mutter' heißen
die lange dünne schwarze frau sucht wieder den dunklen dünnen gelockten kellner. als sie ihn endlich in der ecke bei den gnickernden mädchen entdeckt, fährt sie laut schimpfend auf ihn los
das feine weiße jacket ist laut schnarchend von den stühlen gerollt und flucht jetzt vor sich hin. die tüte von "cor la", 104 rue d'arbour, paris, sieht sehr zerknittert aus
der meckernden ziegenherde geht langsam die luft aus. nur vereinzelt bäht und mäht es aus verschiedenen richtungen. die grau-schwarzen söckchen nähern sich den zu engen kurzen hosen
neben mir machen sich die namen der wichtigsten sight-seeing-points aus dem merian selbständig.
mein stift ist heruntergefallen. auf den knien suche ich ihn zwischen den herabprasselnden und wie schrotmunition um mich herumfetzenden wort- und silbensplittern von mäss kepör rämlä uot sousou känä dscheri ah dscheri rio sädä, oh dear, no. warum muß ich leute beobachten wollen? warum kann ich meinen stift nicht halten?
als der schwarze priester endlich das erste stück zucker aus seinem papierkleid befreit hat, zerbröselt es ihm zwischen den fingern. die tasse wackelt, heißer kaffee schwappt über auf sein bein. sein linker mundwinkel verzieht sich. der toast ist kalt und zäh.
die mutter des kleinen jungen mit dem springtau trägt auf ihrem hochroten kopf drei duty-free-shop-preislisten-papiermützen. um sie herum ein meer von bunten papierschiffchen, die erlesene duty-free-shop-spirituosen parfums walkmänner süßigkeiten und kashmirschals transportieren. mit seinem langen springtau macht der kleine junge ordentlich wellen
in einer ecke sitzen stumm zwei junge jeans-mädchen und starren unter ihren langen haaren auf die szene mit dem dunklen dünnen gelockten kellner und der langen dünnen schwarzen frau
die fleckige rote schirmmütze liegt plattgetreten auf dem boden
der erschreckte kellner drückt der langen dünnen schwarzen frau die ganze kaffeekanne in die hand und verläßt fluchtartig seinen platz
der angeheiterte ältere weibliche trainingsanzug, der eigentlich nie einer war, hat das saloppe heraushängende hemd in die arme genommen und trinkt ihm mit einer dritten flasche piccolo mütterlichen trost zu
und alle tun dasselbe wie ich
alle warten

 

 

SIE

Ein Klingelzeichen ertönt. Beim zweiten Mal wache ich richtig auf, recke mich ein bisschen, schaue auf die Uhr – 2 Uhr 14 –, richte mich auf und schlüpfe in meine Schlappen. Ich mache kein Licht an, denn der Schein aus dem Nachbarzimmer beleuchtet mir durch die offenen Zimmertüren meinen Weg. Noch blinzelnd humple ich steif durch den Flur – so kurz nach längerem Liegen macht die rechte Hüfte gar nicht mehr gut mit. Im Nachbarschlafzimmer sagt eine leise Stimme „Hallo“ und „Ich muss aufs Klo“. Ich nicke und gehe um das Bett herum zur anderen Seite, denn sie muss immer zu ihrer rechten Seite hin aufgerichtet werden; nach links klappt das nicht mehr. Ich drücke den Knopf des Bedienungsgerätes und lasse das Fußteil des Bettes herunter in die Waagrechte fahren, schlage dann die Bettdecke zurück und schiebe, die linke Hand an ihrem Becken, die rechte in Kniehöhe, ihren Körper langsam in eine Schräglage, so dass die Füße über die Bettkante herausragen. Mit leicht gespreizten Beinen, ihre Füße dazwischen, stelle ich mich vor sie hin und greife ihre Hände, die sie mir entgegenstreckt. Mit festem Zupacken ziehe ich ihren Oberkörper hoch und drehe ihn und mich dabei so, dass sie senkrecht zum und auf dem Bettrand zum Sitzen kommt, mit beiden Füßen auf dem Boden.

Ich sehe sie noch, wie sie auf der niedrigen Sandsteinmauer vor der Kirche von Betancuria sitzt, braungebrannt, in dem luftigen Kräuselkreppkleid. Sie lächelt mich ausnahmsweise an, während ich ein Foto von ihr mache. Sie mag es nicht, fotografiert zu werden, aber sie mag Fuerteventura und ganz besonders diesen Ort. Hier, meint sie, sei sie schon einmal in einem früheren Leben gewesen. Der Wind spielt mit ihrem immer noch ganz dunklen Haar und macht die heiße Luft erträglicher. Ich setze mich zu ihr und lege meinen Arm um ihre Schultern. Dort werden wir nie wieder sitzen.

Nach kurzer Pause - inzwischen habe ich den Rollator so vor sie hingestellt, dass die Griffe mit angezogenen Bremsen zu ihr hinzeigen - ziehe ich sie weiter hoch, damit sie in den Stand kommt und die Handgriffe des Rollators umfassen kann. Ich gehe zur Seite, gebe ihr noch ein wenig Halt und sie löst mit einem Knacken die kleinen Bremshebel. Dann versucht sie loszugehen, das rechte Bein zittert, aber dann bewegt es sich ein paar Zentimeter vorwärts; das linke Bein, mehr gezogen und geschoben als gehoben, folgt hinterher. So geht es Stück für Stück; dabei führt die Anstrengung immer wieder zum Zittern der Beine, die nicht so wollen, wie sie. Hände, Arme, Schultern sind verkrampft, der Rücken wie von großer Last gebeugt, der Kopf tief vorgestreckt, so dass am Hals die angespannten Sehnen hervortreten.

Ich sehe sie noch, wie sie müde, aber stolz und aufrecht von ihrer Bergwanderung zurückkommt. Sie hat gerade ganz allein das Ritzenjoch von Ischgl aus ins Lareintal überquert. Eine Frau im besten Alter, wie man so sagt, nicht sehr groß, aber stark, durchsetzungsfähig und einfühlsam zugleich. Die Gebirgsluft tut ihr gut; das Wandern in unmittelbarer und unkultivierter Natur macht frei und leicht, auch wenn die Beine schließlich schwer geworden sind.

Auch jetzt sind die Beine schwer, aber nichts ist leicht. Die Beine rucken und zucken langsam vorwärts. Ich sehe, wie sich die Ferse hebt, aber die Zehen wollen sich nicht vom Boden lösen. Nach mehrmaligem Rucken geht es dann doch weiter. Endlich nach langen und mühseligen Minuten in der kleinen, direkt nebenan liegenden Toilette angekommen, rolle ich die Gehhilfe nach rechts, damit sie sich an der, an der gegenüberliegenden Wand befestigten Griffstange festhalten kann. Ich klappe den Toilettendeckel hoch, greife ihr unter die linke Schulter und fasse sie am rechten Handgelenk – fast wie beim Tanz -, damit ich sie stabilisieren kann, wenn sie sich jetzt um 90o Grad nach hinten dreht, um in eine gute Position vor der Kloschüssel zu kommen. Der rechte Fuß dreht um die Hacke nach rechts, doch der linke Fuß bleibt erstmal stehen.

Ich sehe uns beide beim Strandfest tanzen, in unserem Spezialschritt „einszwei-einszweidrei“, der wunderbarerweise auf alle Rhythmen passt, außer beim Walzer, aber den können wir auch so. Sie zum ersten Mal in dem kleinen Kleid mit dem kurzen, schwingenden Rock, das wir in der Hotelboutique gekauft haben. Ab und zu drehe ich sie, dreht sie sich, drehn wir uns im Kreis, die Schritte so leichtfüßig, wie es unser Atem zulässt.

Schließlich hat sie die Drehung schwer atmend vor Anstrengung geschafft und ich lasse sie langsam mit gestreckten Armen auf die Toilettensitzerhöhung hinunter. Vornüber gebeugt, die Beine knapp am Boden, sitzt sie mit leicht geschlossenen Augen und versucht sich zu konzentrieren. Ich nehme den Rollator mit und schließe die Tür hinter mir. Nach einiger Zeit klopft es an der Tür und ich helfe ihr hoch in den Stand, schiebe die Gehhilfe so vor sie hin, dass sie sie mit beiden Händen greifen kann. Sie redet ihrem rechten Fuß innerlich zu; Zehen, Fußballen, Ferse, alle weigern sich, nach vorn zu rutschen. Erst als sie es schafft, das rechte Bein anzuheben, gelingt ihr wieder der erste kleine Schritt.

Ich sehe sie noch – es ist gut vierzig Jahre her –, wie sie sich mit leichten Schritten, ja, fast springend, über die großen und kleinen, wie dahin geworfenen Steinplatten am Strand unseres Campingplatzes bei Pula bewegt, bis sie ganz nah am Wasser die große flache Platte wiederfindet, die unser Lieblingsplatz geworden ist. Sie breitet ihr Handtuch aus, und als ich sie in ihrem tatsächlich selber gehäkelten Bikini dort liegen sehe, sage ich aus wahrlich heiterem Himmel „Du, ich bin sicher, du bist schwanger!“ und streichle ihr über den Bauch. Ich sollte Recht behalten.

Die lieben, nun ungehorsamen Beine sind zurück am Bett angekommen. Bald werden wir den Rollstuhl nehmen müssen. Wieder eine Drehung rückwärts, vorsichtig, mit einigem Schwanken, und ich lasse sie zum Sitz an der Bettkante herunter. Mit einem kleinen Schwung rückwärts und leichter Drehung bringe ich sie in die Seitenlage; indem ich unter Nacken und Oberschenkel fasse, hebe und drehe ich sie mit einer Schaukelbewegung in die Rückenlage, so dass sie nicht zu nah am Rand liegt, schiebe das kleine Kissen unter ihren Nacken und decke sie mit dem leichten Oberbett zu. Kopf- und Fußteil des Bettes fahre ich wieder etwas nach oben. Sie lächelt erschöpft, ich streiche ihr übers Gesicht und mache die Stehlampe aus. Im Dunkeln tappe ich den Weg zu meinem Bett zurück. In zwei oder drei Stunden wird sie wieder klingeln – SIE, die Frau, die ich liebe.


Klaus Urban, November 2010


Knopfloch - oder Ein Aufklärungsstück

Kürzlich war mein gleichaltriger Freund Ben zum ersten Mal in seinem Leben bei einer besonderen Spezies Ärzte, nämlich beim Hautarzt, den er komischerweise schon nach kurzer Zeit nicht leiden mochte. Dass das auf Gegenseitigkeit beruhte, konnte er da noch nicht wissen. Seine Antipathie setzte wahrscheinlich in dem Moment ein, als ihm wieder mal klar wurde, dass und wie sich viele Menschen hinter ihrem Beruf verstecken, dass sie dort ihrer heimlichen Leidenschaft, ihrem versteckten Laster unverhohlen frönen oder ihre Bedürftigkeit verbergen können, ohne dass man das richtig merkt. Darüber hatten wir uns erst neulich unterhalten. So sind Psychologen z. B. eben Psychologen, weil sie es selber am nötigsten haben; so sind Chirurgen, Chiropraktiker, Physiotherapeuten und Metzger meist Sadisten, Banker und Lehrer sind Masochisten und Hautärzte sind eben verhinderte Voyeure, die ihr Laster dann auch noch ordentlich zu Geld machen. Das ist ja auch irgendwie logisch - zumindest dermato-logisch! So gesehen müsste man es als Glück ansehen, dass Slammer kein (richtiger) Beruf ist; die wären dann nämlich eigentlich Exhibitionisten, also Verbal-Exhibitionisten.
Ben also zum Hautarzt hin, muss man ja mal, in dem Alter, von wegen Vorsorge undsoweiter. Aber dass das dann so weit ging, hatte er nicht gedacht; viel weiter, als er dachte. Er war – wie ich übrigens auch - immer der Meinung, Haut, das sei die Außenseite, also alles das, wo verbotenerweise früher die Sonne viel zu lange draufgeschienen hat. Damals war man ja schutzfaktormäßig noch nicht so up to date. In dieser, aber nicht nur in dieser Hinsicht, sind wir beide noch alte Indianer: Jeden Sommer Rothaut gewesen! Der Hautarzt schaut sich also, leidenschaftlich intensiv, teils begeistert, teils betrübt, alles außen sehr sorgfältig und manchmal sogar mit einer riesigen Lupe an und murmelt unverständlich vor sich hin. Es hört sich wie Fachchinesisch an, aber Ben hätte es natürlich schon sehr gern verstanden bzw. die Übersetzung gehabt, um zu wissen, weshalb der nun wirklich an den verschiedenen Stellen gejuchzt und gestöhnt hat.
Aber auf einmal will er ihm auch in den Hintern gucken. Ben ist so überrascht, dass er zu lange überlegt, und bevor er es sich überlegt hat, sitzt er schon auf so einer Art Gebärstuhl und kann sich nicht mehr wehren. Offensichtlich geht seine Haut auch innen weiter - obwohl ihm das eigentlich zu weit geht! Ob und was der Medikus dann da innen beobachtet hat, überlassen wir höflich der ärztlichen Schweigepflicht.
Als er schließlich fertig ist, muss der Arzt ihm noch unbedingt etwas mitteilen; er sagt: „Sie haben übrigens einen anatomisch sehr merkwürdigen Anus!“ Hä?! Ben macht große Augen. Wie bitte? Siehste, denkt er sich, ich habe gleich geahnt, dass er mich nicht leiden kann! Sagt der Arzt doch glatt zu ihm: „Sie haben übrigens einen anatomisch sehr merkwürdigen Anus!“ Ben wusste natürlich, was der wirklich meinte, nämlich „Sie sind ein merkwürdiges Arschloch!“, aber das kann der als Profi nicht so und nicht laut sagen; als Fachmann muss er sich da medizinisch verklausuliert ausdrücken. Ben ist sich sicher, der wollte ihn so richtig ärgern. Warum sollte er es sonst ausdrücklich sagen, vor allem, wenn es weder krankhaft noch gesundheitsschädlich ist! Er hätte es doch einfach akzeptieren und stillschweigend tolerieren können, dass Ben da eben irgendwie anders ist.
Als Ben seinem Sohn davon erzählte, sagte der gleich, er solle solche Fäkalsprache nicht verwenden, das passe nicht zu ihm. Da war seine Toleranzgrenze überschritten. Aber das hätte er mal diesem Hautarzt sagen sollen; schließlich hat der damit angefangen! Doch Ben ist ja ein artiger Papa und hört auf seinen Sohn; deswegen sagt er als Kompromist stattdessen jetzt immer „Knopfloch“. Dagegen kann eigentlich keiner was haben, meint er, oder?
Als dieser Hautarzt ihn also Knopfloch genannt hat, da schoss ihm gleich durch den Kopf: Wenn das schon mein, im weitesten Sinne hinternfotziger Hautmedikus sagt, der mich kaum kennt, was meint dann wohl die übrige Welt zu mir? Aber nicht genug damit, denn dann treibt der es noch auf die Spitze, indem er das erklärend spezifiziert: „Sie haben nämlich einen trichterförmigen Anus!“
Cool, das hatte gesessen! Wie vor den Kopf geschlagen – oder besser eigentlich, sprichwörtlich in den Hintern getreten, ist Ben aus der Praxis raus. Das hat ihm dann aber doch, und zwar über längere Zeit hin, zu denken und zu grübeln gegeben, ein trichterförmiger Anus. Die unglaublichsten Assoziationen schwirrten ihm durch den Kopf. Z. B. die mit dem sogenannten „Nürnberger Trichter“, von dem die meisten sicher schon gehört haben. Über diesen Trichter wurde, wie die ganz alten Pädagogen glaubten, das Kind belehrt und gelehrt (mit „h“ versteht sich!), in dem das Wissen direkt durch diesen Trichter in den Kopf des Kindes kommen konnte. Ja, und bei ihm sitzt der Trichter eben da unten. Das erklärt auch mir natürlich nachträglich vieles.
Deswegen hat er früher solche Probleme mit dem Lernen gehabt und vieles einfach falsch herum verstanden! Und der Weg zum Gehirn ist dann auch noch so lang! Kein Wunder, wenn da so manches unterwegs verloren geht oder möglicherweise auf dem falschen Weg verdaut wird.
Und dann diese andere Sache mit den sogenannten Lernkanälen: Fortschrittliche Lehrer berücksichtigen heute ja schon, na ja, ab und zu, die verschiedenen Lernkanäle, über die ein Kind bevorzugt lernen kann; also z.B. den auditiven Kanal über das Ohr oder den visuellen über das Auge – und bei ihm war das halt der rektale Kanal, über den … Natürlich hat das damals keiner gewusst oder geahnt. Auf dem hat er ja eigentlich immer nur gesessen – wie man das in der Schule eben so machen muss. Und ich weiß das, er saß neben mir. Von daher ist klar, dass er eigentlich auch gar nicht richtig zugänglich bzw. ihm der Unterrichtsstoff nicht zugänglich war. Jetzt weiß ich auch, warum der Lehrer öfter zu Ben, wenn der was nicht mitbekommen hatte, so zynisch vorwurfsvoll gesagt hat: „Du sitzt wohl auf Deinen Ohren!“ – Ja, Recht hat er gehabt – ohne es wirklich zu wissen! Aber der Lehrer fand es nur witzig und hatte Ben mal wieder blamiert - und der hatte die Knopflochkarte.
Trotzdem ist Ben groß geworden und was geworden, ohne so ein Knopfloch geworden zu sein, wie man es überall unter den normalen Anussen oder Anüssen - nein, wahrscheinlich heißt es Ani – findet. Was es da für Knopflöcher gibt, da wird einem ganz anders. Richtige Knopflöcher überall, auf allen Ebenen. Z. B. auf Mini-Knopflochebene, wenn man etwa die kleinen Knopflöcher in den nachmittäglichen Fernsehtalk- oder Doku-Shows sieht, oder auf einer hohen Megabene, wenn man sich da viele Politiker anschaut, und nicht nur die, die aktiv den Weltfrieden gefährden, oder einfach solche stinkreichen Knopflöcher, die an der Cote Azur und auf Florida und auf Madagaskar eine Ferienvilla besitzen und sich hierzulande über zu hohe Steuern beklagen, oder dieses Knopfloch von Hausbesitzer, der 12 Asylbewerber in einem Raum „wohnen“ lässt und ihnen dafür 90% ihres schwarz verdienten Geldes abknöpft, oder diese kleingeistigen Knopflöcher, die gegen alle andere Kulturen oder Hautfarben sind bzw. andere Menschen nicht tolerieren, weil sie einfach eben nur anders sind als sie.
Nein, also da bin ich dann doch froh, dass Ben kein normales Knopfloch ist, sondern mit Stolz seine anatomische Merkwürdigkeit trägt und wir beide zusammen als alte Indianer ein bisschen für Toleranz und den Weltfrieden kämpfen! How!

Klaus Urban, September 2011

 

WDWGW: WENN DIE WELT GERECHT WÄRE

Wenn die Welt gerecht wäre, dann würde die Fußballnationalmannschaft von Aserbeidschan nicht von Berti Vogts trainiert werden.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann gäbe es im Fernsehen keine Castingshows.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann wäre Karl Theodor zu Guttenberg Plagiatsminister in Absurdistan.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann würden Nasen nicht laufen und Füße nicht riechen – und umgekehrt.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann wäre Angie Mörkel eine chemisch-technische Assistentin in einem Bio-Labor in Göra (oder Leipzsch).
Wenn die Welt gerecht wäre, dann wäre Jörg Pilawa nicht Quizmaster, sondern Lebensmittelkontrolleur für Wurstwaren.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann würde Josef Ackermann seinem Namen Ehre machen und als Bauer das Feld pflügen.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann müssten zukünftige Minister erst ein Assessment-Center erfolgreich absolvieren, um ihre Qualifikation zu belegen.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann wäre Gabriel wieder ein Erzengel.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann würde Tim Weltenretter Bendzko nicht erst die Unmenge von 148.713 Mails checken müssen, bevor er dazu kommt, die Welt zu rett.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann würde ein Kreuzschifffahrtskapitän nicht aus Versehen unversehens in ein Rettungsboot fallen.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann müssten wir den Regenwald nicht mit Biertrinken retten.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann hätte ich immer Recht.
Das ist alles nicht Ernst, das ist alles Konjunktiv – und über den verfügt nur der Mensch. Mit dem Konjunktiv haben wir alle Möglichkeiten, können alles Mögliche und Unmögliche denken und sprechen und brauchen dafür nicht nach Amerika ins Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten zu gehen. Wir haben die Möglichkeiten natürlich nicht nur zum Spaß, sondern auch für den Ernst. Mit dem Konjunktiv haben wir die ernsten Möglichkeiten, allerdings zunächst mal nur im Kopf und in der Sprache, wie z. B.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann säßen nicht so viele „Schlecker-Frauen“ jetzt auf der Straße.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann würde nicht das 1% der reichsten Deutschen 36% des Gesamtvermögens besitzen (oder 1 pro Mille fast ein Viertel).
Wenn die Welt gerecht wäre, dann würden unberührte Messdiener unberührte Messdiener und unberührte Odenwaldschüler unberührte Odenwaldschüler bleiben können.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann würde kein Indio aus dem Regenwald vertrieben.
(lauter) Wenn die Welt gerecht wäre, dann würde kein einziges Land mehr über Atomwaffen verfügen und dann bräuchte man auch keine Gedichte mehr darüber zu schreiben.
(noch lauter) Wenn die Welt gerecht wäre, dann müsste kein Mensch in Afrika hungern.
(noch noch lauter) Wenn die Welt gerecht wäre, dann müssten keine Unschuldigen in Afghanistan sterben.
(ganz laut) Wenn die Welt gerecht wäre, dann gäbe es nicht überall die großen und kleinen Hitlers, dann wären die Taylors, Mladics, Gaddafis und Assads keine Mörder.
Warum brülle ich hier so herum? Das ist Euch gegenüber, die Ihr doch nichts dafür könnt – oder? -, doch nicht gerecht?!
Diese Art von ernsten „Wenn die Welt gerecht wäre“-Sprüchen könnte man leider und müsste man eigentlich stundenlang weiterführen, damit sie wirklich ins Bewusstsein und ins Unterbewusstsein dringen.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann würde die Welt gerächt – und zwar von uns, den Zorros der zu Unrecht Geächteten, zurecht Gerechten, die mit ihren Weltverbesserungsdegen all das ungerechte Unbill killen, das viele Menschen sich verlassen fühlen, trauern und verzweifeln lässt, das Hoffnungen zerstört und Schmerz und Tränen zulässt.
Wenn die Welt gerecht wäre, dann wäre die Welt wirklich gerecht und ich müsste hier nicht so larmoyant herumlamentieren; dann hätte ich vielleicht die Gelegenheit und Möglichkeit, fast friedlich, fast niedliche, fast friedliche Gedichte schreiben, wie z. B. dieses:

Erde, oh Erde
die Franzosen sagen „Merde!“,
die Deutschen sagen Mist,
weil die Welt nicht gerecht ist –

Welt, oh Welt,
was wärst Du ohne Geld?
Jeder würd‘ nur tauschen,
all dem Gefeilsche lauschen;
‘ s gäb keinen Euro-Millionär,
arm zu bleiben, wär nicht schwer,
und ganz evolutionär
ü berlebten nur die Lauten,
weil sie auf die Pauke hauten.

Alternativer Schluss (noch etwas friedlicher, niedlicher):
doch ganz anti-evolutionär
ü berleben auch die Armen
weil die Reichen sich erbarmen.

Wenn ich recht darüber nachdenke, war dieser zweite Schluss eigentlich auch ein Konjunktiv – auch wenn man das grammatikalisch gar nicht gehört hat!

Wenn die Welt gerecht wäre, dann müsstet Ihr Euch nicht jetzt so einen niederschmetternden Text anhören, aber dann hättet Ihr auch nichts, worüber Ihr Euch ärgern könntet - und das wäre auch wieder nicht gerecht. Denn sich mal über was so richtig schön ärgern zu können, bringt ja auch irgendwie Spaß! Aber im Ernst:
Wir haben als einzige Lebewesen die Möglichkeit zur Möglichkeit, wir können Unmögliches denken, wir können uns alles vorstellen. Was Welt wäre, wenn! Was Welt nicht wäre, wenn! Was Welt sein könnte! Mit unserer Kreativität können wir mit den Unmöglichkeiten in Gedanken und mit Sprache, mit Wörtern und mit Buchstaben spielen, wir können alles verändern: Aus „gerecht“ wird Gericht, aus Gericht wird Gedicht, aus Gedicht wird Gesicht, aus Gesicht wird Gerücht, aus Gerücht wird Gerüst usw.
Wenn die Welt z. B. ein Gericht wäre, dann wäre sie vielleicht ein Paella-Bouillabaisse-Pizza-LeipzigerAllerlei-Schnitzel-DimSun-Burger, um den sich ein MayonaiSoya-Ketchup-Barbecue-Senf-Mond dreht und alles mit einer gelb-rot-weiß-braunen Soße verschleiert.
Wenn die Welt aber z. B. ein Gericht wäre, dann würde sie die Menschheit verklagen, nicht nur wegen Fahrlässigkeit oder Verletzung der Aufsichtspflicht oder wegen Verwahrlosung, sondern auch wegen versuchten Mordes, wegen Vergiftung, wegen Folter und Verstümmelung.
Wenn die Welt z. B. aber ein Gedicht wäre, dann wäre sie entweder ein Haiku oder eine Endlosballade, bei der die Versfüße Bocksprünge rückwärts machen und bei der sich nichts reimt, weil sich keiner einen Reim aus nichts machen kann, weil nichts zusammen passt.
Wenn die Welt z. B. ein Gesicht wäre, dann würde sie es angewidert abwenden, damit keiner diesen Arsch mit Ohren sehen muss.
Wenn die Welt ein Gerücht wäre, wirklich nur ein Gerücht, dann gäbe es sie ja gar nicht wirklich, und die Bibel, die es ja auch nicht gäbe, hätte gelogen, von wegen Genesis - und dann würden sich alle Marsmännchen vor Lachen die Ohren zuhalten.
Wenn die Welt ein Gerüst wäre, dann würde sie alle stützen und allen Halt geben.
Wir haben aber nicht nur die Möglichkeiten im Kopf und in der Sprache, sondern die Wirklichkeit und die Zukunft in unserer Hand, denn wir sind nicht nur ein bisschen radio-aktiv, wir sind nicht bloß reaktiv, wir sind kreativ und kreaktiv!
Also liegt es an Dir und an Dir und an mir, an uns, dazu beizutragen, dass aus diesen konditionalen Konjunktiven kausal-indikative Tatsächlichkeiten und kategorisch-imperative Realitäten werden, dass aus gerechten Möglichkeiten gerechte Wirklichkeiten werden, über die man dann wirklich und zu Recht sagen kann:
WDWGI: Weil die Welt gerecht ist!

 

LIEBE ist eine Tätigkeit
(für Verena)

Die Liebe ist nicht nur einfach und plötzlich da. Für die Liebe muss man etwas tun. Liebe ist nicht nur ein Gefühl; eine spezielle Form des Seins; Liebe ist nicht nur Gewissheit und Ungewissheit; nicht nur etwas, das sich ereignet; nicht nur Verlangen, Entzücken, Rausch, Wonne, Lust; nicht nur keine Selbstverständlichkeit – Nein, Liebe ist eine Tätigkeit, eine Aktivität, die es zu tun gilt!

Das ist Herzarbeit und Kopfarbeit und Handarbeit - und Tätigkeiten beschreibt man mit Tu-Wörtern, mit Verben, und es gibt fast kein Verb, das man auf diese unglaublich komplexe und simple, diese delikate und triviale, diese außergewöhnliche und banale, diese schwere und leichte, diese süße und bittere Tätigkeit nicht anwenden könnte. Da gerät man fast unversehens leicht in ein Tätigkeitsgedicht:

Liebe ist eine Tätigkeit / Doch niemals eine Tätlichkeit / Liebe ist Arbeit, Liebe ist Spiel / Für Liebe tut man nie zu viel / Liebe heißt voneinander lernen / Ihre Dauer steht nicht nur in den Sternen / Sie hängt ab von Deinem Tun / Also auf zur Arbeit nun!

Du musst die Liebe erarbeiten, denn Liebe ist kein Ausruhkissen. Du musst kämpfen, aber nicht besiegen; du musst dafür streiten, aber nicht zerstören; musst erobern, aber nicht unterwerfen oder besetzen; du musst werben und erwerben, aber nicht besitzen.

Lass dein Herz sprechen, lass es stammeln, poltern, stottern, lispeln, lallen, flüstern, aber lass dein Herz sprechen. Herzschweigen ist nicht Gold.

Du kannst zuhören (das ist nicht schweigen!), fragen, sich sorgen, sich beteiligen, Acht geben, berührt sein, ernst nehmen, nachfragen, streiten, verstehen, akzeptieren, verzeihen, bangen, sich freuen, gemeinsam schweigen, ersehnen, wünschen unter einer Decke stecken (!).

Für liebende Wortakrobaten ist Liebemachen die reinste Schatzkiste, wenn man es dann praktisch und physisch wirklich tut: sich herzen und busseln, kosen und küssen, umarmen und umbeinen, tätscheln, schmusen und hätscheln, schnäbeln und näseln, necken und schmeicheln, abschmatzen und umhalsen, schmecken und lecken, abknutschen und turteln, liebeln und schäkern, auf Händen tragen und betüddeln.

Wenn man sich dann in diesen ganzen Tätigkeiten näher kommt, wenn also der eine Wortaustragungsort, genannt Mund, auf den anderen Wortaustragungsort trifft, dann wird gestülpt und aufgesetzt, geschmeckt und geschmatzt, gesogen und gezogen, geschoben und geschupst, gestoßen und geschlotzt, verharrt und abgewartet, gestartet und gesiegt.

Die gleichen Verbalien treffen auch zu, wenn man Liebe tun und machend, z. B. an den knospigen Spitzen der Überlebenstankstellen für Babys tätig wird. Dort kann man außerdem knuspern und knaspern, knispeln und knipseln, zutzeln und zusseln, knabbern und knubbern, lutschen und flutschen, saugen und sabbern, kraulen und kitzeln, beißen und nagen, schnalzen und schmatzen, nippen und züngeln.

Wenn die Tätigkeiten dann weiter fortschreiten, bekommen die Finger und Hände ein breites Aufgabengebiet zu erobern: sie rennen und brennen, lüpfen und hüpfen, verweilen und eilen, erregen und bewegen, streichen und schleichen, befühlen und wühlen, huschen und kuschen, drücken, entzücken und beglücken, gleiten und leiten, streicheln und schmeicheln, liebkosen und tosen, berühren und führen, stupsen und wupsen, strubbeln und rubbeln, tippen und wippen, fummeln und bummeln, greifen und schweifen, befassen und lassen, spielen und sich sielen, drängen und dringen und schwingen, stoppen und foppen, zittern und twittern, tänzeln und schwänzeln, kitzeln und zitzeln, wärmen und schwärmen, erhaschen und schnappen und schnippen, suchen und finden, erkennen, verschwinden, betasten, hasten und rasten, bezaubern, entzünden, ergötzen, sondieren, trommeln und kriechen und bohren und kreisen und kraulen und reiben und bleiben.

Wenn dann auf einem ganz hohen Niveau der Tätigkeiten auch die physischen corpora delicti im Akt (und das Wort hat nun wirklich etwas mit Tun zu tun!) miteinander verschmelzen, ist auch da die Tätigkeitsskala enorm breit gefächert: Die Grundtätigkeiten wie liegen, sich wiegen, stehen, drehen, hocken, tragen, sitzen, schwenken, senken, knien, kauern, kullern, hängen, halten, heben, bücken, kriechen, rollen usw. erweitern sich durch robben, rappeln, rucken, hüpfen, hopsen, wippen, schwingen, pendeln, schaukeln, kugeln, stoßen, stützen, rütteln, schütteln, schieben, gleiten, zappeln, neigen, wälzen.

Und dann erst die unglaubliche Vielfalt non-verbaler Ausdrucksmittel und –tätigkeiten, wenn man sich dem Höhepunkt nähert, dem physischen Arbeitsergebnis nahe kommt und es schließlich erreicht: wie stöhnen, ächzen, jammern, jubilieren, juchzen und schluchzen, jauchzen, lachen, quieken, jubeln, jaulen, brummen, gackern, grölen, kichern, quietschen, kreischen, knurren und surren, schnurren und schnarren, schnauben, brüllen, brummeln, wiehern, johlen, jodeln, piepsen, girren, glucksen, singen, seufzen und zischen, grunzen, kieksen, fauchen, krähen und bähen, maunzen, prusten, trällern, summen, lächeln und hecheln und schwächeln und - schnarchen.

Angesichts der Vielfältigkeit, des Facettenreichtums der Sprache und des Liebe-Machens: Was ist das für ein Niedergang der deutschen Sprache und des Liebe-Tuns, wenn es dann, wenn es ums Ganze geht, oft heißt: es wird gebumst. Was für ein simples, niederträchtiges, vulgäres Wort für das, was es meint. Wie das schon klingt: Bums, Bums, Bumsfallera – da fehlt nur noch, dass die Bumskapelle aufspielt [Radetzky-Marsch antröten]!

Gepimpert ist auch nicht viel besser - aber es hat wenigstens ein fröhlich klingendes „i“.

In Österreich sagn‘ s: gepudert. Na, ich will mir gar nicht vorstellen, was das für Missverständnisse mit sich bringen könnte. Aber es ist wenigsten eine Tätigkeit.

Anders als beim politisch korrekteren „beigeschlafen“ – und das trifft‘ s ja auch nicht wirklich; bei „WAS“ geschlafen, dabei geschlafen, dabei geschlafen? Oder bei „WEM“ geschlafen? Irgendwie ist das akademisch langweilig.

Liebemachen ist eine unglaubliche, aber nicht unbeschreibliche, fast unermessliche und fantastische Schatzkiste für Verbophile – und das kann so besessen machen (wie mich), dass es nur zum Verb(al)orgasmus kommt und man darüber vergisst, wirklich Liebe zu machen.

Liebe ist eine Tätigkeit! Packen wir’s an! Und deshalb muss ich jetzt ganz schnell weg!

Klaus Urban, im Mai (Lenz!) 2012


MANNOMANN
ein text für männer – ein text für frauen

mann, du willst verlocken die frauen mit deinem
aufgetauten flauen männlichkeitswahn
mit deinem abgekauten lauen vertrauen kommst du
nicht weit kommst du nicht an die verbliebene chance der triebe
vertan wirst verzocken die flüchtige
balance von lust und liebe
verbocken die süchtige situation in der
die interaktion gewagt und auf ganz besondere weise
gespielt gefragt war leise sensibel und
nicht nur pennibel in den spiegel geschielt
in dem du immer nur den sieger siehst
den sexkrieger der mit gefühl
nur spielt im beziehungsgewühl
um sich schießt wie ein blinder ein blender
ein herzensverschwender
wens trifft ist egal hauptsache keine qual
entsteht für die wahl solang dir unbeschrien
das adrenalin nicht ausgeht

im vergleich zu dir ist das trampeltier
ein behutsames liebreiches wesen
der einsame stier auserlesen in dir
will vom verzehrenden hassen nicht lassen
nicht genesen von blutleeren wutgrimassen
will sich wehren windet sich hetzt zuletzt
durch die gärenden gassen wo schamlos geblendete
massen zehren vom zuckenden begehren
des augenblicks und hinterrücks polterst du
groß ohne rücksicht und nachsicht und absicht los
nicht eine beziehung ist dir heilig gefühle
sind nachteilig abgestorben verdorben die empfindungen
bloß keine bindungen zulassen besser voreilig passen
verlassen die reine anziehungskraft der empathie
auch die harmonie hassen und vernichten
das schafft kakophonie
dann weißt du wenigstens was du hast
und was nicht


mann, frage dich mannhaft die frage der fragen:
wer bin ich? und wenn ja, wie viele
willst du noch sein bevor du dich endlich findest
wie viele spiele willst du noch spielen
wie viel leben und zeit im nu noch verdealen
bevor du dir wahrlich gehörst und
ein jeder dich wirklich findet und
dein ego verschwindet im ich
denn über dich und unter dich geht dann nichts mehr
alle spielfelder leer gefegt die figuren huren
nicht länger kann der seelenfänger der herzensverbrecher
spurenlos schattengänger bleiben versprecher entleiben -
doch fürsprecher treiben dich an und zu dir
bis im hier und jetzt du wenn auch verletzt
ganz du sein könntest


du überholst auf jeder spur
und hinterlässt keine
keine lust pur ohne limit jede lässige geste
ein gimmick an der leine führst du
die anderen siegesbewusst vor
deiner vordertür lässt du
die heute ungeliebten leute lange warten
und hoffen kein casting keine kür
kein verlust die hintertür offen für dich
denn deine harten Absichten gelten
für alle andern wenn sie mitnichten in die falle
tapsen wollen die weltenverbesserer
sind nur verräter aus dem hinterhalt
darf niemand dir gewachsen sein
du bist immer kalt immer täter
nie opfer

du bist dein eigener headhunter du stellst
dich selber in den hellsten schatten und ins grellste rampenlicht
bist dein eigner seelenverwandter universeller bekannter
bester freund und liebhaber jasager
würdest am liebsten dich selber begatten und nicht nur
wenn du könntest inszenierst du dich
mit grandiosem makabrem gelaber
genierst dich nicht und führst dich selber auf
und ein und vor niemals ab denn bei dir
kann auch virtuell nichts verstopfen weil professionell
du alle pfropfen weggehauen hast und entsorgt
wie die frauen besonders die mit namen
und gesicht die nie wirklich kamen bei deiner lauen pflichtübung
geborgt ihre anmut als zierde die scheinbare heiße
begierde ein tribut an ehrgeiz erwartung und status orientiert
die weiße fahne hast du nie akzeptiert


mann, frage dich mannhaft die frage der fragen:
wer bin ich? und wenn ja, wie viele
willst du noch sein bevor du dich endlich findest
wie viele spiele willst du noch spielen
wie viel leben und zeit im nu noch verdealen
bevor du dir wahrlich gehörst und
ein jeder dich und in dir sein du wirklich findet und
dein ego verschwindet im ich
denn über dich und unter dich geht dann nichts mehr
alle spielfelder leer gefegt die figuren huren
nicht länger kann der seelenfänger der herzensverbrecher
spurenlos schattengänger bleiben versprecher verschreiben -
doch fürsprecher treiben dich an und zu dir
bis im hier und jetzt du möglichst unverletzt
ganz du sein kannst

die zeit ist kein kleingeld für dich
die welt nicht weit weit ein verlockendes ziel
sondern schockend und glänzend schändlicher
abenteuerspielplatz wo kinderspiel verboten ist
dafür jagen und rauben und siegen
und zoten und hetzen und hatz
auf dem letzten kargen spielplan stehn
die sagen nah am wahnsinn der intendant du
ignorant ganz verliebt im glauben an deinen monolog
der im sog deiner schlachten die eigenen sinne
betrog und alle andern belog
du behauptest und glaubst du könntest
niemand missachten vergrätzen verletzen
nicht kummer noch schmerzen bereiten
seist verbindlich loyal und gar nett noch dazu doch
hinter dir lässt du auf dauer ein lazarett zurück
mit kasteiten verwundeten herzen
getäuscht und enttäuschten hoffnungen
trauer am krankenbett misshandelter gefühle


mann, frage dich mannhaft die frage der fragen:
wer bin ich? und wie viele
willst du noch sein bevor du dich endlich findest
wie viele spiele willst du noch spielen
wie viel leben und zeit noch verdealen
bevor du dir wahrlich gehörst und
ein jeder dich und in dir sein du wirklich findet und
dein ego verschwindet im ich
bis du im hier und jetzt wenn auch verletzt
letztendlich ganz du bist


© Klaus Urban, November 2011 bis Januar 2012